Studium im Exil

 

Studium und Leben fern der Heimat

Gedanken zum Studium in anderen Ländern und Kulturen

 

Die Autor*innen und Fotograf*innen Elena Fiebig und Simon Gerlinger haben vier belarussische Studierende in Deutschland getroffen, um sie zu porträtieren und herauszufinden, wie es ihnen in ihrer jetzigen Lebenssituation geht.

 

Ivan

 

Wir treffen Ivan in seinem WG-Zimmer im Leipziger Westen. An der Universität für Kunst und Kultur in Minsk studierte Ivan und beendete sein Studium. Danach begann er seine Doktorarbeit mit dem Thema „Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche Anfang des 20. Jhrd. in Belarus. In dieser Zeit erhielt Ivan ein Stipendium von der Organisation „Brot für die Welt“, dass ihm die Möglichkeit eröffnete, im Ausland weiter zu studieren. Ein Zufall brachte ihn nach Leipzig, da ein Buchautor mit dem gleichen Thema in Leipzig unterrichtete. 2020 entschied er sich im letzten Moment doch nicht nach Belarus zurückzukehren und beantragte eine Verlängerung seines Visums. Er verstand, dass es zu gefährlich ist, für ihn nach Belarus zurückzukehren. Außerdem gibt es keine Jobs in der Heimat und: “Als Geisteswissenschaftlerin einem autoritären Regime zu promovieren ist wirklich nur bekloppt.” Seitdem arbeitet er als eingeschriebener Promovend in einem Archiv. Die Universität für Kunst und Kultur in Belarus hatte schon vor den manipulierten Wahlen und den darauffolgenden Protesten einen schlechten Ruf. Der Rektor und viele Lehrenden sind aufgrund von nicht stattfindenden Vertragsverlängerungen entlassen. Seit den Protesten hat sich der Studienalltag nicht wesentlich verändert, außer, dass das Klima des Umgangs miteinander ein anderes wurde. Zudem wurden einige Studierende nach den Protesten exmatrikuliert und die schlechte Corona Politik forderte einige Tote unter den Professor*innen. Heute fragen ihn öfters Kommiliton*innen die von der Politik und den Machthabern eingeschüchtert werden, ob er ihnen helfen könne, nach Deutschland zu reisen. Viele Studierende versuchen in die Ukraine, Lettland, Litauen oder Polen auszureisen, um dort weiter zu studieren. Auch für Ivan haben sich durch die Proteste in Deutschland viele Dinge verändert. Über Telegram habe er sich vernetzt und es entstand ein gutes und sehr persönliches Netzwerk für den informativen Austausch, um Fragen zur Botschaft oder wie man günstig nach Belarus käme, zu klären. Er selbst habe an vielen Demos in Leipzig teilgenommen und organisiere mittlerweile zusammen mit Dasha die Proteste. Er beschreibt dieses Zusammenwachsen der belarussischen Gemeinde im Ausland als einzigen positiven Effekt von Lukaschenko. Aktuell glaubt er nicht, dass die Demos etwas verändern, dennoch empfindet er es als persönliche Bereicherung seiner politischen Meinung eine Stimme geben zu können und besuche deshalb aktuell sehr viele Demos. 2019 war er für zwei Wochen das letzte Mal in Minsk, um einige Sachen an seiner Universität zu klären, seitdem war Ivan nicht mehr in Belarus. Eigentlich gibt es keine Einreisebeschränkung für ihn, um nach Belarus zurückzufahren, allerdings könne es spontan neue Gesetze geben, die das spontane Ausreisen unmöglich machen. Ivan kennt seinen aktuellen Status an der Universität in Belarus nicht. Es könne gut sein, dass er eine Anklage bekommt mit einer Rechnung für sein Studium, wenn er zurückreist. Das undurchsichtige Verhalten von Strafgeldern sei immer mehr geworden. Dies sei meist eine willkürliche Art und undurchschaubar für die Bürger*innen von Belarus. Eigentlich würde er gerne zurückkehren, um in Belarus zu arbeiten, allerdings hält er dies in der jetzigen Situation für unwahrscheinlich beschreibt sein Gefühl als sehr enttäuscht und wirkt resigniert. Ohne eine Veränderung wäre es aktuell nicht lebenswert, nach Belarus zurückzukommen. Er vermisse dennoch die wilden Wälder, seine Freunde und Familie sowie lokale Milchprodukte und das Leben in Minsk.

 

Deutschland ein neuer Lebensmittelpunkt - beruflich und privat

 

Darya

 

Darya wohnt zusammen mit ihrem Mann seit zwei Jahren in Leipzig. Wir treffen uns an einem Nachmittag auf eine Tasse Kaffee in ihrer Dachgeschosswohnung. Vor vier Jahren, erzählt sie mir, kam sie das erste Mal nach Leipzig, nachdem sie ein Stipendium für einen Auslandsaufenthalt bekommen hatte. Zuvor wuchs sie in einem kleinen Dorf auf, wo sie nie das politische System hinterfragte. „Das man einen Präsidenten hat, ist selbstverständlich”. Das erste Mal kam sie mit dem politischen System in Kontakt, als sie für ihr Studium in Minsk einen Wohnheimplatz suchte. Sie fühlte sich zuvor bei der ersten Wahl dazu verpflichtet, Lukaschenko zu wählen, um in Minsk besser Chancen auf eine Unterkunft zu bekommen. Auch bei ihrer Bewerbung für das Stipendium ihres Auslandsaufenthaltes wurde ihr ans Herz gelegt, besser nicht zu den Demos der Chernobyl Schlacht zu gehen, da dies die Entscheidung über ein Stipendium beeinflussen könnte. Daraufhin, erzählt sie, habe sie sich immer mehr angefangen zu informieren. Sie erzählt mir von unterdrückter politischer Bildung an den Universitäten und dem Gefühl, ein “kleiner Mensch, der kein Wort hat” zu sein. In ihrer Philologischen Fakultät wurden nach und nach die verantwortlichen Personen ausgetauscht, sodass die etwas alternative Fakultät nicht mehr frei in ihrem Denken war und unter dem Machteinfluss leidet. Darya beschreibt mir, dass sie in Deutschland das erste Mal gesehen hat, wie es laufen könnte und das mit ihrer Heimat verglich. “Deutschland fühlt sich an, als hättest du frische Luft und keine Blockade mehr.” Daraufhin beschließt sie 2018 auszuwandern und ihren damaligen Freund zu heiraten. Seitdem wird ihr belarussischer Abschluss nicht anerkannt und sie arbeitet zuerst als Deutschlehrerin für Geflüchtete und an freien Sprachschulen, bis sie nun an einer Waldorfschule Russisch unterrichten und auch eine Aussicht auf eine waldorfpädagogische Ausbildung hat. 2020 beschließt Darya aus Minsk auszureisen, um in Deutschland für ihre Heimat zu wählen. Sie beschließt in Berlin zu wählen, damit ihre Stimme auch gezählt wird. Dort werden auch die wahren Ergebnisse gezeigt. Nachdem Ereignissen um die Wahl 2020 und den Berichten von Bekannten und Freunden aus Minsk beschließt sie, eine Facebook Event zu einer solidarischen Demo in Leipzig zu gründen. Daraufhin treffen sich belarussische Personen, die teilweise seit mehr als sieben Jahren in Leipzig wohnen, das erste Mal zusammen auf der Straße. Viele sehen dies als sehr positiven Akt des Vernetzens. Doch trotz allem wirkt sie resigniert. Die Belaruss*innen hätten sich verändert. Durch die Proteste haben sich viele politisiert, aber auch gemerkt, dass sie in so einem Land wie Belarus zurzeit nicht leben möchten und umziehen. So auch Darya, die sich aktuell nicht vorstellen kann, nach Belarus zu ziehen.

 

Mit der Angst in Deutschland leben

Belarus in den Köpfen der Politiker wachhalten

 

Iryna

 

Iryna ist mit 23 nach Deutschland gekommen, jetzt ist sie 31 und in den letzten Zügen ihres zweiten Jurastudiums. Sie empfängt mich in ihrem Haus auf dem Land zwischen Prüfungsstress und der Betreuung ihres Kindes. Wenn sie heute gefragt wird, warum sie damals ausgewandert ist, antwortet sie, dass sie den Luxus genießen wollte, mit rot-weißen Socken spazieren zu gehen. Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 ist sie im Verein Razam e.V. engagiert, organisiert dabei vor allem die Protestbewegung in Bremen und hat das Bremer Solidaritätskomitee gegründet, um Aufmerksamkeit in den politischen Parteien für die belarussische Zivilbevölkerung zu bekommen. Vor den Protesten hatte sie, wie so viele Zugezogene, keinen Kontakt zu Belarussen in Deutschland und ist regelmäßig zu Besuch in Belarus gewesen, wo sie jetzt seit den Protesten nicht mehr war. Selbst, als ihr Vater aufgrund einer Corona Infektion fast gestorben wäre, haben ihr alle davon abgeraten hinzufahren, denn Iryna tritt in Deutschland öffentlich gegen Lukaschenko auf. Jetzt ist sie froh, dass kürzlich endlich ihre Schwester mit ihrer Familie über die Grenze gekommen ist und zumindest in vermeintlicher Sicherheit außerhalb von Belarus ist. Angst davor, auch vom Auslandsgeheimdienst aufgegriffen zu werden, hat Iryna eigentlich immer - wenn sie allein zu Hause ist, wenn sie joggt, wenn sie ihr Kind nicht sieht. Besonders wenn man weiß, dass die belarussischen Sicherheitsdienste eng mit dem russischen KGB zusammenarbeiten und diese auch zu Chemiewaffen greifen. Sie versucht sich aber nicht zu sehr von der Angst einschränken zu lassen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie zuerst ihre Familie in Belarus eingeschüchtert wird - oft werden unschuldige Familienmitglieder als Pfand für angeblich schuldige im Ausland lebende Freunde oder Familie in Haft genommen. “Offiziell gibt es in Belarus ja keine politisch Gefangenen, es wird immer das Gesetz so ausgelegt, dass man irgendwas Banales falsch gemacht hat.” In den Gefängnissen bekommt man dann trotzdem eine extra Markierung, um besonders schlecht behandelt zu werden. Unter den Unterstützer*innen von Lukaschenko werden auch nur die belohnt, die besonders grausam sind - meist mit Wohnungen oder Autos, sagt Iryna. Wenn die Leute vom Sicherheitsapparat an den Verbrechen nicht teilnehmen möchte, werden sie ganz schnell als Selbstmord getarnt, von den Leuten aus den eigenen Reihen umgebracht. „Nichts machen ist auch keine Sicherheit, da dort nichts als Willkür herrscht. Die Folgen des Regimes greifen in alle Bereiche.“ Was Iryna oft nicht versteht, ist, wenn andere Belarussen Lukaschenko nicht ernst nehmen. In den Augen mancher ist er nur ein kranker alter Mann. Nicht selten werden Verbrechen von ihm mit dem Satz „Er hat wieder vergessen, seine Tabletten zu nehmen“, als kleines Versehen abgetan. Ihrer Meinung nach ist er der „perfekte“ Diktator. Iryna war vom Unterschied der Studienstruktur von Jura in Belarus und in Deutschland sehr schockiert. Erst in Deutschland hat sie verstanden, dass es in Belarus einfach nicht erwünscht ist, dass die Menschen- und Grundrechte verstanden werden. „Wenn schon den belarussischen Jurist*innen nicht wirklich wissen, wozu die Menschen -und Grundrechte da sind, wie sollen dann die normalen Bürger* innen diese verteidigen?“ Da ihr aktueller Status vom Studium abhängig ist und nur jährlich erneuert wird, ist ihre Aufenthaltssituation eigentlich sehr unsicher. Sie versucht aber noch nicht zu viel über die Möglichkeit eines politischen Asyls nachzudenken. Früher hat sie immer gedacht, dass es bald besser wird in Belarus, obwohl es keine Anzeichen dafür gab. Daher hat sie aufgehört, jegliche Prognosen aufzustellen oder irgendwas zu hoffen. „Auch wenn Lukaschenko irgendwann geht, muss man sich trotzdem weiter für Menschenrechte und Demokratie einsetzten. Wenn man nicht aktiv bleibt, wird aus jeder Demokratie schnell wiedereine Diktatur. Man muss die persönliche Verantwortung für seine eigenen Rechte übernehmen.“

 

Razam („gemeinsam“) e.V. hat ca. 150 organisatorisch aktive Mitglieder und ca. 850 Unterstützer*innen. Es ist ein gemeinnütziger Verein welcher die erste Interessenvertretung von und für in Deutschland lebende Belarus*innen ist. Sie wollen über die aktuelle Lage hinaus die belarussische Kultur und Sprache fördern und eine Plattform für den Austausch mit Menschen in und aus Belarus werden.www.razam.de

 

Auf der Flucht als politischer Geflüchteter

In Freiheit leben

 

Oraz

 

Oraz musste in seinem Leben schon mehrfach seinen Wohnort wechseln, weil es zu gefährlich für ihn wurde. Ich treffe ihn in seinem Neuen zu Hause, ein polnisch-deutsches Wohnprojekt in Frankfurt an der Oder wo er seit einem Monat versucht, körperlich und geistig anzukommen. Die Ruhe der Stadt im Osten von Deutschland tut ihm nach dem ganzen Stress der letzten Monate sehr gut. „Eigentlich hatte ich nicht annähernd vor wegzuziehen, ich stand in Belarus kurz vor der Beantragung der Staatsbürgerschaft und hatte neben meiner ehrenamtlichen Arbeit und dem Studium auch einen guten Job.“ Jetzt wartet er darauf, dass seine belarussische Aufenthaltsgenehmigung annulliert wird. In Belarus, wo er vor einigen Jahren Pharmazie studierte, war er bis zu den ersten Festnahmen seinen Freund*innen und Kommiliton*innen im November 2020, als die Sicherheitskräfte spontan beschlossen, dass sie Kriminelle sind, in der belarussischen Studierendenvertretung aktiv. Er hat sich dort vor allem um internationale Angelegenheiten gekümmert. Dass es gefährlich für ihn werden würde, war ihm schon zu Beginn der Proteste klar, daher hielt er sich im Hintergrund und war nicht aktiv auf den Demonstrationen

dabei. „Alles, was in den letzten Monaten passiert ist, ist wie ein schlechter Traum. Wir sind vor der Präsidentschaftswahl nie auf die Idee gekommen, dass der KGB sich für Studierende interessieren würde.“ Jetzt wird ihnen die Organisation von Massenprotesten vorgeworfen und diejenigen, die noch nicht im Gefängnis sind, stehen auf allen Fahndungslisten. Die maximale Strafe für dieses „Vergehen“ ist eigentlich drei Jahre Freiheitsentzug, allerdings muss man hier vor allem die schwierigen Bedingungen in den belarussischen Gefängnissen beachten. „Einen Tag sind sie nett zu dir, nur damit es am nächsten Tag noch schmerzhafter wird, wenn sie nicht mehr nett sind. Sie behandeln dich wie Tiere, nur dass es denen meist besser geht.“ Er erzählt, dass die meisten Leute aus den NGO’s, nicht wie er über Polen, entweder direkt oder über Russland in die Ukraine geflohen sind, da man hierfür kein Visum gebraucht hat. Hier in Deutschland macht er sich aktuell eigentlich die meisten Sorgen über den turkmenischen Sicherheitsdienst. Mit 16 kam er zum Studium von Turkmenistan nach Belarus. Sein Vater hat für ihn das Land ausgesucht, weil er dorthin Kontakte hatte, er wollte weg. Da seine Identit.t nicht mit der turkmenischen konservativen Normvorstellung zusammenpasste, sah er in diesem korrupten und repressiven Regime keine sichere Zukunft für sich. Das Land ist abgeschottet, Messenger-Dienste wie Facebook und Instagram sind blockiert und alles andere ist überwacht. Weil er seine Familie vor Angriffen schützen möchte, ist er auch Ihnen gegenüber zurückhalten mit privaten und politischen Informationen. Wenn er von den Sicherheitskräften in Belarus nachdem offiziellem Haftbefehl gegen ihn aufgegriffen worden w.re, w.re er wahrscheinlich nicht nur eingesperrt worden, sondern auch zurück nach Turkmenistan gebracht worden - was für ihn noch gefährlicher gewesen w.re. Sicher wird er sich erst fühlen, wenn er eine andere Staatsbürgerschaft als die turkmenische hat. Aber wenn bald sein turkmenischer Pass abläuft, hat er Angst, in der Botschaft festgenommen und zurückgeschickt zu werden oder ganz zu verschwinden. „Ich habe aus Gründen des Selbstschutzes aufgehört, mich emotional zu sehr an Menschen und Orte zu binden.“ Er versucht es gerade noch zu vermeiden, politisches Asyl zu beantragen, aber wahrscheinlich wird das die einzige Lösung für seinen Aufenthaltsstatus sein. Diesen permanenten Stress um seine Zukunft wandelt er in positive Aktivit.t um, fühlt sich manchmal aber trotzdem dem Burn-out sehr nahe. „Was seit den Protesten wirklich richtig gut ist, ist, dass die Verbindungen in der belarussischen Diaspora stärker geworden sind. Wir hatten vorher kein richtiges Nationalgefühl, denn vor den Protesten war die Opposition zu polarisiert und engstirnig.“ In Deutschland hat er sich noch nicht an den Solidaritätskundgebungen für Belarus beteiligt, da er immer noch sehr viel für die belarussische Studierendenvereinigung arbeitet und bald eine Englischprüfung ablegen muss, um sich hier in Deutschland für ein Studium einzuschreiben. Dass er hier sein kann, verdankt er dem Hilde Domin Programm der Europa Universit.t Frankfurt an der Oder. Es wurden im Rahmen des Programms sechs Stipendien für „unterdrückte Studierende aus Belarus“ geschaffen, die die gesamte Dauer seines Studiums in Deutschland finanzieren. Was genau er studieren wird, ist für ihn aktuell noch Nebensache, solange er in Sicherheit ist und sich für die belarussische Studierenden einsetzten, kann.

 

Die ZBS ist eine Koalition der Studenten Gewerkschaften in Belarus, deren Ziel die Stärkung der belarussischen Studenten für die Wiederbelebung der Prinzipien der Demokratie, Legalität und Achtung der Menschenrechte und Freiheiten ist.

 

www.zbsunion.by/en